In unregelmäßigen Abständen sollen auf Pop Sub Hoch Gegen unter dem Titel »15 Minuten« Gespräche zu verschiedenen Themenstichworten veröffentlicht werden. Das zeitlich begrenzte Format eines 15minütigen Dialogs kann dabei Formen des Improvisierten, Assoziativen und Heuristischen annehmen und widmet sich jeweils Begriffen oder Phänomenen, die im weitesten Sinne unter Bezug auf Subkulturen und/oder Popkulturen beschrieben werden können.
Nach Gesprächen zum Thema »Punk«, zum Thema »Militanz«, zum Thema »Amerika (Norden)« und zum Thema »Gilets Jaunes, Gelbwesten« diskutieren Hans Ulrich Reck und Konstantin Butz während der fünften »15 Minuten« das Thema »Graffiti«.
Hans Ulrich Reck: Wenn wir heute über Graffiti reden, was gibt es dann Neues zum Thema zu sagen? Gibt es überhaupt etwas grundsätzlich Neues in der Bewegung des Graffiti oder der gesellschaftlichen Bewertung?
Konstantin Butz: Etwas Neues wäre zumindest die Einordnung oder besser gesagt eine Differenzierung hinsichtlich dessen, was in den letzten Jahren als Street Art und Urban Art Konjunktur hatte und immer breiter rezipiert wurde und wird. Das ist auch gerade noch einmal ganz aktuell und sehr überzeugend in der jüngst erschienen Ausgabe der Zeitschrift KUNSTFORUM International (Band 260, Juni 2019) thematisiert worden. Das Heft erschien unter dem Titel »Graffiti Now« versehen mit dem Untertitel »Ästhetik des Illegalen«. Von der Herausgeberin wurde in der Einleitung quasi als Definition zugrunde gelegt: »Graffiti ist immer illegal«. Das unterscheidet es von gewollten, geduldeten und zumindest teilweise subventionierten Werken der Street und Urban Art.
Reck: Das war immer schon ein Kennzeichen. Das Spielerische und das Spezifische der Jugendkultur spielten stets eine Rolle. Das Illegale und die damit verbundenen Mutproben, die jugendkulturell dimensioniert sind und beispielsweise beim Besprühen von Zügen auch eine stark physische Komponente beinhalten, sind bleibende Merkmale des Graffiti.
Butz: Wenn man an Crews wie die Berliner 1UP denkt, die mit wirklich spektakulären und großflächigen Interventionen auf sich aufmerksam machen, dann kommt auch noch eine mediale Dimension hinzu, die das Performative am Akt des Sprühens verdeutlicht. Zum einen sind für die Schaffung dieser Werke zum Teil wirklich aufwendige Vorbereitungen notwendig, die das Klettern auf Dächer, das Abseilen von dort und überhaupt auch die Suche nach Zutrittsmöglichkeiten betreffen und zum anderen kommen dabei moderne Überwachungs- und Dokumentationstechnologien in Form von Drohnen zum Einsatz, die ganz neue Formen der Choreografie zulassen. Das Video, das von 1UP unter dem Titel Graffiti Olympics veröffentlich wurde, ist in dieser Hinsicht beispielhaft.
Da wird ein Drohnenflug durch Athen präsentiert, der mit nur ganz wenigen Schnitten auskommt und an unterschiedlichsten Orten Sprühaktionen zeigt, die alle simultan stattfinden: Es werden ganze Häuserfassaden bespielt, es wird von Einzelpersonen an Außenwänden gesprüht, kleine Gruppen bemalen in unterschiedlichen Straßen Mauern, mehrköpfige Gruppen sprühen an Zügen und es wird überall sowohl detailliert als auch großflächig gearbeitet. Alles wird mit einem einzigen Drohnenflug in seiner Gleichzeitigkeit dokumentiert, was eine enorme organisatorische und choreografische Vorbereitung voraussetzt. Dadurch verschiebt sich der Fokus noch mal ganz deutlich auf die performative Seite des Graffiti und den Moment des Sprühens, der häufig von einer ganzen Reihe an Vorabüberlegungen begleitet ist, die eine intensive Auseinandersetzung mit der Umgebung beinhalten und auch die eigene Bewegung und Positionierung innerhalb dieses Umfelds mit antizipieren muss.
Reck: Man könnte sagen, dass das eigentlich konzeptuelle Partituren sind. Das wird häufig unterschätzt. Werke von solchen Gruppen sprengen den Rahmen von »mal eben an der Ecke ein Zeichen setzen«.
Butz: Vielleicht muss man dann auch ganz vom Werk weg gehen, also von dem was am Ende herauskommt. Es geht viel mehr um die Aktion und die Geste, die Graffiti als performatives Element begleitet. Walter Benjamin hat in einem anderen Zusammenhang – nämlich in Bezug auf Techniken des Schreibens – festgehalten: »Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption« (→). Ich finde, das passt auch in diesem Kontext ganz gut. Bei fertigen Graffiti-Bildern hätten wir es in diesem Verständnis quasi mit Totenmasken zu tun, hinter denen das Konzeptionelle bzw. präziser gesagt das Aktionistische verschwindet. Das Performativ-Aktionistische hinterlässt gesprühte Spuren, die man auch betrachten kann und die natürlich auch ästhetisch interessant sind, aber für die Graffiti-Sprühenden beginnt dann eigentlich wieder etwas Neues.
Reck: Das erinnert an den paradigmatischen Prozess der Arbeit, wie Karl Marx ihn beschreibt: Die lebendige Arbeitskraft verschwindet im Produkt und kann nicht adäquat vergegenständlicht werden. Das ist eine existentielle Entfremdung, die lebendige Arbeit immer erleidet. Dabei spielt auch nicht die kapitalistische Organisationsform die Hauptrolle, sondern das Lebendige an sich. Die lebendige Arbeit verschwindet und das geschieht im Graffiti selbstverständlich auch, gerade bei einer Bewertung als Kunstwerk. Das ist dann eine Fetischisierung von etwas Dinghaftem anstelle von etwas Lebendigem. Insofern ist natürlich der ganze Kunstmarkt und das ganze Kunstsystem nichts anderes als ein unbewusster Totenkult. Zudem ist der Kunstmarkt unersättlich gierig und das Kunstpublikum hat immer das Gefühl, dass etwas, wenn es als Kunst gilt, irgendwie anders gewertet sei als sonstige visuelle Phänomene. Man konnte schon immer Ausbruchsversuche aus diesem System beobachten. Im neunzehnten Jahrhundert oder in der Umbruchsituation des zwanzigsten Jahrhunderts waren zum Beispiel die Expressionisten in Dresden dadurch gekennzeichnet, dass sie sich für Ethnologie interessierten und ins Museum gingen, um afrikanische Skulpturen zu studieren. Es ging ihnen um die Regeneration der müden europäischen Kunstseele an den außereuropäischen Innovationen. Dieser Mechanismus ist immer der selbe geblieben: Die Surrealisten haben das ausgeweitet, im selben Kontext gab es die Entdeckung der kindlichen Kreativität, dann gab es die Kunst der Psychiatrisierten oder sonstigen Außenseiter, dann Art Brut, die rohe Kunst. Graffiti kann man in dieser Reihe sehen, weil es sonst nichts mehr außerhalb der Kunst Liegendes gibt. Der Versuch der Vereinnahmung von gesprühten Werken durch den Kunstmarkt sagt entsprechend nichts über Graffiti aus, aber viel über die Mechanismen dessen, was man Kunst nennt. Die Frage, die sich anschließt, ist, ob das nicht auch destruktive Auswirkungen auf Graffiti hat. Kunst verharmlost ja immer. Das ist immer eine Eingemeindung, die dem Ganzen das Illegale nimmt. Graffiti wird dann Urban Art oder Street Art; Kategorien, die ich niemals benutzen würde.
Butz: Das ist ein ganz klassisches Beispiel dafür, wie sich viele Subkulturen seit jeher entwickeln, wie sie vereinnahmt, wie sie in gewisse gesellschaftliche Kategorien und Strukturen eingeordnet und damit dann auch verständlich für Nicht-Eingeweihte werden. Für Graffiti bedeutet das, dass es im Zuge einer solchen Entwicklung auf einmal interessant und zugänglich für ein bürgerliches Publikum wird. Die Herausforderung für die aktive Graffiti-Szene bleibt dann, damit umzugehen und andere Formen und Methoden zu finden, sich dem wieder zu entziehen oder auch auf die institutionalisierte Präsentation von bereits gesprühten Werken zu reagieren. Von daher kann die Vereinnahmung eigentlich auch immer ein interessanter und durchaus produktiver Moment sein, weil es dann darum geht einen nächsten Schritt zu finden und sich vom Existierenden abzusetzen. Es geht hier meines Erachtens auch nicht in erster Linie um ästhetischen Ausdruck. Ich finde, das haben Sie in Ihrem Aufsatz »Graffiti – Symbols, Spaces, Bodies: Inscriptions and Rejections« in der Zeitschrift form gut auf den Punkt gebracht: Ein authentischer Gestus steckt hier nicht im »Repertoire ästhetischer Ausdrucksformen«, sondern im »Ritus einer Initiation«, durchaus auch im Modus einer Mutprobe, wie Sie es eben genannt haben. Das bleibt für die jeweils agierende Generation von Graffiti-Sprühenden immer grundlegend und wichtig. Diesen Punkt würde ich auch gegenüber Versuchen von Historisierungen anbringen, bei denen gerne behauptet wird, dass früher alles besser, echter oder »mehr street« war. Der Moment des Sprühens an sich bleibt für Jugend- und Subkultur wertvoll, gerade weil er sich nicht einfach greifen oder vereinnahmen lässt. Im Übrigen – und auch darauf wird in KUNSTFORUM überzeugend hingewiesen – sind derartige Phänomene auch wichtig für eine demokratische Gesellschaft. Es heißt dort:
Hiermit ist nicht gemeint, dass explizit die Sprayer den Fortschritt einer Gesellschaft ermöglichen, gemeint ist, dass eine Gesellschaft, in der es auch Ausdruck von Ungehorsam, wie beispielsweise dem Graffiti gibt, als Ganzes gesünder und letzten Endes gerechter funktioniert. Überspitzt gesagt: Der Regierung eines Landes ohne Graffiti muss mit enormem Misstrauen begegnet werden.
Larissa Kikol: »Vom Wert des Ungehorsam«. KUNSTFORUM International, Bd. 260, Juni 2019. S. 178.
Reck: Das könnte man generalisieren. Gesellschaft braucht nicht nur dieses häufig mehr oder weniger schmerzvolle Zugeständnis des Illegalen, Gesellschaft braucht auch Brachen, in denen so etwas stattfindet. Das sollte man nicht romantisieren, sondern kann es einfach zur Kenntnis nehmen. Das Nicht-Definierte ist ganz entscheidend. Es muss auch nicht als Brache definiert sein. Eine bleibende Lehre daraus betrifft ganz allgemein den öffentlichen Raum. Dort gibt es unglaublich viele Vandalisierungsprozesse. Der Autoverkehr ist nichts weniger als eine absolute Vandalisierung des öffentlichen Raumes, die aber so nicht wahrgenommen wird, obwohl sie wahrnehmbar wäre. Hinzu kommt die unsägliche Werbung, die überall zu sehen ist. Jeder Ladenbesitzer kann seinem schlechten Geschmack frönen. Das ist nicht neu und wurde bereits öfter gesagt. Insofern hat es aber keinen Sinn, über Graffiti als privilegiertes Vandalismusmerkmal ästhetisch zu reflektieren, wenn man nicht die permanente systematische Relevanz der ästhetischen Zerstörung des öffentlichen Raumes in Betracht zieht, die es einfach in allen möglichen Versionen gibt.
Butz: Ich habe ein Bild mitgebracht, über das ich mit Ihnen als Rektor der Kunsthochschule für Medien sprechen möchte.
Es handelt sich um einen gesprühten Schriftzug, der im Innenhof vor der Cafeteria der KHM aufgetaucht ist. Ohne jetzt zwangsläufig auf den Inhalt des Slogans einzugehen, interessiert mich Ihr Blick auf so etwas. Schauen Sie aus zwei Perspektiven darauf? Einmal als jemand, der als Rektor eine Verantwortung für eine Institution trägt und dann als jemand, der sich analytisch mit künstlerischen und widerständigen Formen des Ausdrucks auseinandersetzt? Vielleicht wäre bei diesem Schriftzug das Künstlerische auch die falsche Kategorie. Kommt man überhaupt weiter, wenn man hier ästhetisch denkt? Spielt hier die Ästhetik des Illegalen eine Rolle?
Reck: Das ist eine provokatorische Geste, die eigentlich in der Artikulation auf ihren Endpunkt kommt. Das ist ein Statement, das ja auch kontrovers diskutiert wurde. Als »normaler« Betrachter stört es mich nicht weiter, aber als Rektor muss ich unter Umständen dafür sorgen, dass so etwas entfernt wird und auch daran denken, ob nicht die Leute in die Pflicht genommen werden, die es produziert haben. Das ist natürlich eine Rolle, die mich normalerweise nicht interessiert. Ich weiß auch gar nicht, wann dieser Schriftzug dann wieder weg gemacht wurde. Ich finde dieses Zeichen aber weder ästhetisch noch semantisch interessant. Es spricht allerdings eine Not aus und insofern kann man das auch so zur Kenntnis nehmen.
Butz: Ich finde, Jean Baudrillard hat in seinem bekannten Essay »KOOL KILLER oder Der Aufstand der Zeichen« ganz gute Worte für das Phänomen Graffiti gefunden, die meiner Meinung nach auch hier zutreffen. Er sagt, Graffiti »kotzt sich aus«. Ich glaube, das schwingt auch in dem Schriftzug »Kill All Heterosexuals« mit: Hier »kotzt« sich jemand aus. Was Baudrillard schreibt, ist gerade im Hinblick auf die hier vermittelte semantische Ebene interessant. Er sagt über den quer über Hausfassaden, Fenster und Bürgersteige verlaufenden Graphismus von Graffiti, er sei »wie die polymorphe Perversion von Kindern, die die Grenze der Geschlechter und die Begrenzung erogener Zonen ignorieren«. Das finde ich in diesem Kontext und mit Blick auf seine inhaltliche Ebene doch sehr vielsagend. Die Aussage »Kill All Heterosexuals« arbeitet sich ja offensichtlich an Geschlechterzuschreibungen beziehungsweise an sexuellen Normen ab und »kotzt« sich diesbezüglich über den Status Quo aus. Baudrillard schafft in seinem Text eine Verbindung, die das in direktem Zusammenhang mit Graffiti diskutiert. Von daher leuchtet das Medium, das hier offenbar für die Artikulation einer spezifischen Not und einer radikalen Kritik gewählt wurde, durchaus ein.
Reck: Ich gebe Ihnen recht. Ich fand sowieso, dass die Texte Baudrillards – nicht nur derjenige über den »Aufstand der Zeichen« – brillante Beobachtungen und assoziative Improvisationen waren. Es sind ja in dem Sinne keine wirklichen Analysen, sondern Reizfiguren, die sehr ins Extreme gedacht sind. Das empfand ich immer als eine absolute Stärke von Baudrillard. Das hat von den zeitgenössischen Philosophen niemand sonst gemacht und er war sich nicht zu schade, dafür auch immer wieder Prügel zu beziehen. Diese polymorphe Perversität, die er benennt, ist eine Figur, die Sigmund Freud als Regression beschreibt. Das ist auch interessant: das notwendige Regredieren, also das Unterlaufen der zivilisatorischen Standards. Als vermeintlich »zivilisierter« Mensch respektiere ich das Eigentum anderer und wenn ich das nicht möchte, dann muss ich regredieren. Polymorphe Perversität heißt dann, dass ich bestimmte Grenzen nicht respektiere; vor allem nicht die zwischen positiver und negativer Bewertung. Alles zivilisatorisch nicht sanktionierte Verhalten fällt dann darunter und insofern ist dieses »Sich-Auskotzen« – auch und gerade mit einem dämlichen Spruch – doch interessant. Es sagt etwas über die Funktion von Regressionen. Baudrillard hat da einen wichtigen Punkt getroffen. Das ist eine bleibende relevante Beobachtung und die kann man natürlich auch mit so einem gesprühten Spruch in Verbindung bringen. Als Rektor muss ich auch nicht unbedingt und zwangsläufig auf so etwas reagieren, aber es wurde in diesem Fall eben ins Rektorat getragen und dann sagt man etwas dazu, was auf der Ebene der Zivilisation sehr hoch codiert ist, aber damit trifft man das Phänomen natürlich nicht mehr.
Butz: Unsere Unterhaltung zeigt, dass bei Graffiti nach wie vor verschiedenste Aspekte zum Tragen kommen, die uns auch als Rezipierende immer wieder herausfordern. Auf der einen Seite bleibt der performative Moment an Graffiti interessant, der auch vom Werk losgelöst zu denken ist und bei dem es um eine Geste und eine Aktion geht. Auf der anderen Seite kommt dann eben auch ein Werk oder zumindest eine visuelle Spur dabei heraus, so dass sich eine andere Ebene öffnet, auf der dann die jeweils Rezipierenden angesprochen und konfrontiert sind. Vielleicht ist es möglich – dem wilden Charakter von Graffiti, also dem wilden Sprühen entsprechend –, auch wild zu rezipieren und Graffiti zunächst einfach geschehen und ungefiltert auf sich wirken zu lassen. Man wird dann immer wieder neu schauen müssen, was im jeweiligen Augenblick für ein Umgang damit möglich ist. Affirmation und Ablehnung von Graffiti können dabei, genau wie Freude und Ärgernis darüber, stets sehr nah beieinander liegen – genau wie bei allen visuellen Phänomenen, die uns im öffentlichen Raum begegnen.
Das Gespräch fand am 29. April 2019 in der Kunsthochschule für Medien Köln statt.