Hans Ulrich Reck

Hans Ulrich Reck arbeitet als Philosoph, Kunstwissenschaftler, Autor und Publizist, hat an etlichen Ausstellungen mitgewirkt und viele Symposien organisiert, veranstaltet und moderiert, einige davon mit dezidiert internationalem und forschungsinnovativem Zuschnitt. Er hat, weltweit, Vorträge gehalten, Workshops im In- und Ausland durchgeführt, zahlreiche Bücher verfasst und herausgegeben sowie Essais für Zeitungen, Zeitschriften, vorwiegend aber für in verschiedenen Verlagen erschienene Sammelbände geschrieben.

Hans Ulrich Reck studierte von 1972 bis 1976 – u. a. bei Ernst Bloch, Walter Schulz, Otto F. Bollnow, Helmut Fahrenbach, Josef Simon, Konrad Hoffmann, Donat de Chapeaurouge, Klaus Schwager, Jürgen Paul, Hans Ott, Hans Mayer, Walter Jens und Wilfried Barner – Philosophie, Kunstgeschichte und neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen (Abschluss mit dem Magister Artium 1976) und 1988 bis 1989 Kommunikationsdesign – bei Bazon Brock – an der Bergischen Universität Wuppertal. Er wurde dort 1989 in Philosophie mit einer Arbeit über Ästhetiken in aktuellen Kulturtheorien promoviert und habilitierte sich 1991 mit der venia legendi für ‘Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft’ auf Grundlage der Schrift ‘Zugeschriebene Wirklichkeit. Alltagskultur, Design, Kunst, Film und Werbung im Brennpunkt von Medientheorie’.

Nicht nur thematisch, sondern auch methodisch interessierte sich Reck seit der wachen Adoleszenz für die spannungsvolle Mischung von Codes und Gegencodes, etablierter und dissidenter Symboliken und ihrer sozialen wie psychomentalen Geschichte, den Konflikt zwischen divergenten Lebensformen, die plebejische Gegenöffentlichkeit, proletarische und massenmediale Kulturformen.

Lebensgeschichtlich zufällig konfrontiert mit den bis heute notorisch verklärten Kontestationsbewegungen schienen ihm aber schon – und gerade – in den späten 1960er Jahre nicht so viele Optionen offen für ein bewusstes Leben wie die kurrenten Ideologien sich dies damals lautstark, ja zuweilen geradezu hysterisch ausmalten. Gerade die hedonistische Insistenz auf eine eigene, neue, schlagartig freie Welt erschien ihm nicht nur als groteske und auch fatale Illusion – zumal wenn dem Bewusstsein übermäßig mit halluzinogenen Mitteln, Narkoleptika und Amphetaminen auf die Sprünge geholfen werden sollte, von präkognitiv zugespitzten organismischen Reizabdämpfungsstoffen wie Heroin und weiterem gar nicht zu reden ­–, sondern als Ausdruck eines massenkulturell sedimentierten und erstarrten Konformismus. In diesen mündeten die Hippie-Kulturen als Einübungen in verzerrte Selbstwahrnehmung ebenso wie das, was sich als Gestus der politischen Dissidenz schon Kraft des totalen Willens zur Signatur einer neuen Welt aufschwang und zugleich die damit verbundene desaströse Prägung eines rigiden Dogmatismus unterschlug: politische Militanz, Mai 68 und ähnliche späthistorische Revokationen eines halbierten revolutionären Proletkultes. Von heute aus ist solche Allianz leicht zu verstehen: Die neuen Konsumisten sind die alten Hedonisten. Und umgekehrt: das Prinzip ist dasselbe. Was das Eigene an sich empfindet, dreht sich immer schon nur um dieses, um sich zu genügen – unbedingt und bedingungslos zugleich; das macht und bedingt eine erschöpfende Arbeit an der Binnenmythisierung eines exklusiv Eigenen.

Auf dem symmetrischen Hintergrund solcher zwar lauthals artikulierter, aber dubios bleibender Selbstvergewisserungsangebote wurde die Beschäftigung mit dissidenten Avantgarden und singulären Experimenten hüben wie drüben interessant, auf der Seite der strukturell etablierten, zugleich aber angefeindeten, experimentierenden Kultur wie auf der Seite der radikalisierten dissidenten Gegenbewegungen, die sich ihrerseits experimentierenden Praktiken der Künste verschrieben. Elektronische Musik und Oper, free jazz und Miles Davis wurden interessanter als der intrinsische Stillstand mittels – nur oberflächlich paradox – LSD und Folklore. Lächerlichkeit der Hippies und Verlogenheit der vorgeblich politisierten Kontestationsbewegungen – und eben dies war immer das Problem: nicht die singulären Denkmodelle und Expositionen individuell bewundernswerten Mutes, sondern eben: ‘Bewegungen’ – bildeten eine letztlich ausgezeichnete Kontrastfolie für die zersetzende Wahrnehmung der Abgründe und heimlichen Allianzen zwischen dem konsumistisch nahegelegten Zerfall der alten Autoritäten und den just durch deren Wohlstandsfolgen mitteleuropäisch und westindustriell geschützten und in Nischen kasernierten Jugend-Aufbruchsbewegungen.

Die Vergewisserung einer unter den offiziellen Codierungen verlaufenden Schicht (Dynamik, Energie) von plebejischen und subkulturellen Ausprägungen quer durch die Zeiten blieb Antriebsmotiv für die Studien in Philosophie, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft, Linguistik und Sprachphilosophie, Sozialphilosophie, Theater, Musik. Diese Bezüge sind noch immer nicht ausreichend wahrgenommen und beschrieben, geschweige denn gut analysiert worden. Historiographie und Theorie der expandierenden, sich stetige verschränkenden Gattungen, Genres, Rhetoriken und Medien in einem Modell dynamisch konfliktreicher En- und Recodierungen kultureller Symbolisierungsansprüche markieren das zentrale, offene Projekt.

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gab es in der Stadt, in der Reck aufwuchs, Basel, eine Fülle von wichtigen Anregungen. Das Umfeld exponierte ein sehr gutes Theater mit Uraufführungen z. B. von Edward Bond, frühen Einspielungen von Peter Handke. Samuel Beckett wurde existenziell, evident. Dazu kam eine Reihe von Konzerten im Theater, die dort eher ungewöhnlich waren und blieben: Guru Guru, deutsche Elektronik-Bands, Joel Vandroogenbroecks ‘Brainticket’, live gespielt zu einer improvisatorischen Ballett-Inszenierung auf der Textgrundlage des ‘trunkenen Schiffs’ von Arthur Rimbaud. Schriftstellerlesungen und -debatten, Rockkonzerte, Weltpremiere von ‘East of Eden’ im illegalen Freiraum einer ‘Arena’. Joseph Beuys war früh präsent mit Ausstellungen und Vorträgen. Ein Schlüsselerlebnis war die Aktionsreihe „Celtic+~“ von 69 bis 70 / 71 zum Motiv des Keltischen, zusammen mit dem dänischen Musiker, Komponisten und Fluxuskünstler Henning Christiansen. Reck besuchte die Performance von Beuys in den Zivilschutzräumen unter der neugebauten Autobahn in Basel, war fasziniert und zum Teil auch ab- oder zurückgestoßen von diesem seltsamen hermetischen Geschehen, das über sechs Stunden dauerte und mit einer Fußwaschung am Publikum begann. Der Einsatz der von Christiansen vorgefertigten Kompositionsteile und Filmprojektionen war interessant und wurde dort auch gleichzeitig wieder gefilmt. Es wurden Super 8 und 16 mm Filme projiziert, ein veritables Multimedia-Ereignis. Zum avancierten Umfeld gehörten auch Begegnungen mit John Cage, der öfter in Basel Aufführungen realisierte. Es gab ein Studio für elektronische Musik an der Musikakademie mit zahlreichen Darbietungen. Auf der anderen Seite von Paul Sacher initiierte und auch dirigierte Konzerte mit etlichem Aufwand. Mahlers Symphonien, Strawinski, Pierre Boulez, der oft auch als Dirigent präsent war.

Besondere Bedeutung errangen, bis heute nachwirkend, ab 1969 die Filme, dann auch die Romane, Essays, Polemiken, Schriften Pier Paolo Pasolinis. Wenig später kamen die Reisen nach Italien dazu, die Lektüre der Philosophie und politischen Texte, die Beobachtung der intensiven Auseinandersetzungen. Die undogmatische, unabhängige, radikale Linke mit und nach Antonio Gramsci, die Lektüre von ‘Il manifesto’, die Auseinandersetzungen mit ‘Lotta continua’, ‘Potere operaio’ und weiterem vermeintlich Marginalem prägten die skeptische und dekonstruktionsbereite Aneignung der hegemonial und dominant behaupteten Wirklichkeits-Deutungs-Modelle. Die Auseinandersetzung mit dem Hegemonialen in kulturellen Apparaten und Diskursen, Symbolsystemen und Ideologien im Zeichen Gramscis blieb nützlich für die Betrachtung der Dynamik von Kulturen und Gegenkulturen.

Quintessentielle Musik:

1981 legt Reck mit ‘Nacht im Feuer. Zur Alchemie des Todes in der Rockmusik’ ein Buch vor, das sich mit den Nachklängen von Jim Morrison/ Doors in der schwarzromantisch radikalisierten Epoche zwischen ‘Deutschland im Herbst’ (1976/ 77) und den subkutan schon spürbar angelegten, bald ausbrechenden Jugendrevolten von 1980/ 81 in Brixton und Zürich beschäftigte. Allerdings erschienen die Doors in den 60er Jahren nicht als vorrangig. Recks Präferenzen waren andere, damals schon: elektronische Musik, Stockhausen, Kagel, Free-Jazz, Miles Davis, Jimi Hendrix. Und dann, immer wieder und anhaltend: Albert Ayler, Archie Shepp, Paul Motian, Ornette Coleman, Pierre Favre, Claude Delcloo, Barney Wilen, Arthur Jones, Roscoe Mitchell, Charles Mingus, Sunny Murray, James Blood Ulmer, Sonny Sharrock, Derek Bailey, Pharao Sanders, The Art Ensemble of Chicago, The Revolutionary Ensemble um Leroy Jenkins und Jerome Cooper, Sun Ra, The Jazz Composer’s Orchestra, Bobby Bradford mit John Stevens und dem Spontaneous Music Ensemble (mit Bob Noden, Trevor Watts, Ron Herman, Julie Tippetts-Driscoll), Herbie Hancock, Lee Konitz, Art Farmer, Max Roach, Jean Luc Ponty, Barre Phillips, Attila Zoller, Albert Mangelsdorff, Dave Holland, Karl Berger, Sam Rivers, Anthony Braxton, Barry Altschul, John Surmann, Stu Martin, Jimmy Lyons, Andrew Cyrill, Alan Silva, Toni Williams, Barney Wilen. Sowie: Erik Satie, Edgar Varèse, John Cage, Morton Feldman, La Monte Young. Und zentral und immer wieder die ‘selten gehörte Musik’ von Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Diter Rot. Das ist bei weitem nicht alles, was zum exemplarischen Auszug gehört. Eine Leidenschaft für Johann Sebastian Bach und vor allem Schubert, immer wieder Schubert, kamen dazu, Boulez ohnehin, Xenakis, Ligeti, die Opern von Richard Strauss, seine vier letzten Lieder. Dann die Kompositionen und Interpretationen von Léo Ferré zu Baudelaire, Apollinaire, Verlaine, Rimbaud, und, weiter, die Volksgut komplex transformierenden Etuden und Préludes von Heitor Villa Lobos, Manuel de Falla, die Kompositionen von Federico Garcia Lorca.