Das Buch Bild, Kunst, Medien: Resonanzen auf das Denken von Hans Ulrich Reck (2018 im Herbert von Halem Verlag erschienen) schließt anlässlich des 65. Geburtstages Hans Ulrich Recks an seine Schriften an und würdigt sein vielseitiges Schaffen in den Feldern der Kunstgeschichte, Ästhetik, Philosophie und historischen Kulturanthropologie. Die fünfundzwanzig Beiträge in Wort und Bild nehmen den Dialog mit dem Denken Recks auf und liefern dadurch eine zukunftweisende Interpretation von Kunst- und Kulturprozessen im medialen Kontext. Der Beitrag von Konstantin Butz ist an dieser Stelle in Gänze nachzulesen. Er eignet sich als Anknüpfung und Erweiterung des Gesprächs Zum Start von Pop Sub Hoch Gegen, das Reck und Butz im Herbst 2014 über das Buch Nacht im Feuer geführt haben.
»Das Chaos im Kopf von Jim Morrison«: Überlegungen zum ersten Buch von Hans Ulrich Reck
von Konstantin Butz
Das rohe Material blieb.
Hans Ulrich Reck, Nacht im Feuer, 1981
The ceremony is about to begin. Ich schlage das Buch auf und blättere. Is everybody in? Iggy Pop begegnet mir. Er trägt ein T-Shirt auf dem das Gesicht von Jim Morrison abgebildet ist. Auf der gegenüberliegenden Seite vergleicht Lester Bangs die Rolling Stones mit The Doors. Die einen seien schmutzig, die anderen seien schrecklich. Auch Patti Smith kommt hier zu Wort und sogar Alice Cooper. Ich blättere weiter. Arthur Rimbaud wird zitiert. Dann wieder Patti Smith. Weiter: Texte von The Doors, auf Englisch und in deutscher Übersetzung: An American Prayer. Ein amerikanisches Gebet. Einige Seiten überspringe ich. Dann entdecke ich einen großen schwarzen Balken, der vermutlich grafisch an einem Fotokopierer kreiert wurde und nun eine halbe Seite einnimmt. Auf der übernächsten Seite dann: ein fotokopiertes Bild von Jim Morrison, der erschöpft mit einem Mikrofon in der Hand auf einer Bühne liegt. Wieder etwas weiter folgt ein Kupferstich des Alchemisten Heinrich Khunrath. Es handelt sich ebenfalls um eine fotokopierte Reproduktion, die hier zusätzlich verdoppelt und leicht verschoben übereinandergelegt wurde. Etwas weiter dann eine ungesättigte Kopie von einem Foto, das die Skyline einer Großstadt zeigt. Ist es New York? Unterbrochen von zahlreichen Collagen, die auch am Kopierer entstanden sein müssen, kehrt die Skyline auf den nächsten Seiten immer wieder. Sie scheint fast eine Art Rhythmus in den Ablauf zu integrieren, bei dem sich jedoch die Größe und der Kontrast, mit denen das zugrundeliegende Foto jeweils reproduziert wurde, stetig ändern. Wieder überspringe ich einige Seiten, blättere vorwärts und entdecke ein Filmstill aus Hans-Jürgen Syberbergs Film über Hitler. Diesem gegenübergestellt: ein Zitat von Antonin Artaud sowie ein Bild von Max Ernst und eines von Pieter Brueghel, beide durch den groben Kontrast der Fotokopie nicht wirklich gut zu erkennen. Dazu und über die Seite verteilt noch ein Satz von Walter Benjamin: „Jedes Bild ist ein Schlaf für sich“ (zit. n. RECK 1981: 117). Nun blättere ich zurück und schaue mir erneut das Foto von dem auf den Bühnenbrettern liegenden Jim Morrison an. Es sieht aus als schliefe er. Ein Schlaf für sich? Ich erinnere mich an das Zitat von Patti Smith, das ich am Anfang gegenüberliegend der Abbildung von Iggy Pop entdeckt hatte und springe zurück auf die entsprechende Seite. Smith beschreibt dort einen Traum. In dem Traum sieht sie Jim Morrison. Gibt es hier einen Zusammenhang? Wie hängen diese Worte und Bilder zusammen? Smith, Morrison, Benjamin?
Nun schlage ich das Buch weit im hinteren Teil auf. Ich sehe Polizisten, die Protestierende abführen. Es folgen weitere Details aus Bildern von Max Ernst. Zwischendurch dann wieder: eine Fotografie von einem Liveauftritt von The Doors. Danach: Details aus Andy Warhols Siebdruck-Serie Electric Chair und seinen Auseinandersetzungen mit Coca-Cola-Werbung, ein Text von Allen Ginsberg, immer wieder Artaud, weitere Stills aus Syberbergs Film, der Pferdekopf aus Volker Schlöndorffs Verfilmung von Die Blechtrommel und ein Foto, das Jim Morrison bei seiner Verhaftung zeigt. Manche Bilder kehren wieder und weitere Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen und Autoren kommen hinzu: Fritz Lang, Öyvind Fahlström, Renzo Vespignani, William S. Burroughs, Hieronymus Bosch, René Magritte, Joan Miró, Francisco de Goya, Sergei Eisenstein, Man Ray, Salvador Dalí, Giovanni Battista Piranesi, um nur einige zu nennen. Zum Teil nehmen die fotokopierten Abbildungen der Werke dieser Personen große Flächen ein und zum Teil tauchen sie nur mit winzigen Details auf, die häufig wegen der angewandten Kopiertechnik kaum zu erkennen sind. Weitere kopierte Fotografien zeigen Polizeigewalt, Anti-Vietnam-Demonstrationen, Soldaten, Exekutionen und brennende Gebäude. Auf eine Seite, die mir besonders ins Auge sticht, wurde die Abbildung eines Flugzeugs kopiert, das gerade zahlreiche Bomben abwirft. Es ist so neben einem Textauszug von Artaud platziert, als fielen die Bomben über das ansonsten weiße Papier der Seite und suggerierten ihre eigentliche Detonation außerhalb des durch die Buchform vorgegebenen Rahmens. Visuell wird hier angedeutet, dass das Buch im wahren Sinne des Wortes Explosives thematisiert. Die Textzitate, die dabei zwischen den grafischen Elementen platziert sind, reichen von längeren Passagen und Songtexten bis hin zu kurzen Aphorismen. Neben vielem Prosaischem finden sich auch Auszüge aus Texten von Eldridge Cleaver und der RAF, von Ulrike Meinhof und Holger Meins. An einer Stelle wird Jim Morrison mit einer knappen Ellipse zitiert: „Ein Zustand ständiger, totaler Paranoia.“ (RECK 1981:230).
Das Buch, das diesem Zustand nachspürt, das all die genannten künstlerischen Positionen und auch noch viele darüber hinaus vereint und gemeinsam mit unterschiedlichsten Textfragmenten zu einer rund 250-seitigen Collage kompiliert, erschien im Jahr 1981 unter dem Titel Nacht im Feuer. Zur Alchimie des Todes in der Rockmusik. Es handelt sich um das erste veröffentlichte Buch von Hans Ulrich Reck. In einem Gespräch, das ich im Oktober 2014, also 33 Jahre nach der Veröffentlichung, mit ihm über die Entstehung von Nacht im Feuer führe, erinnert er sich hinsichtlich der Motivation und der Entstehung des Buches, dass es – auch wenn er dieses Vorhaben retrospektiv als etwas „großspurig“ bewertet – um den Versuch ging, „das Chaos im Kopf von Jim Morrison zu visualisieren“ (BUTZ/RECK 2014: o.P.). Setzt man dieses Ansinnen in Bezug zu der zitierten Ellipse und Morrisons fast diagnostischer Ausrufung eines Zustands totaler Paranoia, dann erscheint der methodische Zugriff, den Reck in seinem Buch zugrunde legt, besonders interessant. Er versammelt eine Vielzahl von fragmentarischen Elementen und arrangiert, beziehungsweise collagiert sie in einer Art und Weise, die sich von einer rein diskursiven Auseinandersetzung abhebt. Die Annäherung an das Chaos, das in der Gedankenwelt des Musikers und Autors Morrison vermutet werden darf, geschieht hier nicht im Durchlauf einer chronologisch orientierten Hermeneutik, die sich der im Titel des Buches genannten Thematik, also einer Alchemie des Todes in der Rockmusik, im Sinne einer wissenschaftlichen Analyse annehmen und diese in Form von textlich fixierten Bewertungen und Interpretationen vorstellen würde. Vielmehr generiert Nacht im Feuer ein ganz eigenes Chaos. Ein Chaos, das sich deshalb kaum bändigen lässt, und damit überhaupt erst zu einem solchen wird, weil es sich aus situativ assoziierten Gedanken speist, welche sich die jeweiligen Rezipientinnen und Rezipienten in immer neuen und frei kombinierbaren Formen und Zusammenhängen bei der Lektüre, beziehungsweise bei der Auseinandersetzung mit dem Buch, vor Augen führen können. Dabei können sie nicht auf eine vorgegebene Choreografie zurückgreifen, die ihnen den Weg durch Nacht im Feuer vorzeichnen würde, sondern sind auf eigene Ideen und Intuitionen angewiesen.
Eine hervorragende Beschreibung, die diese nur unbeholfen skizzierten Eigenschaften des Buches präzise zusammenfasst, findet sich in einer Rezension, die Rudolf M. Lüscher im Juli 1981, also kurz nach Erscheinen von Nacht im Feuer in der von Theo Pinkus in Zürich herausgegebenen Zeitschrift Zeitdienst (Nr. 29/ 30 vom 24.07.1981) veröffentlichte. Es ist nicht nur deshalb ausgesprochen sinnvoll, Lüscher an dieser Stelle zu zitieren, weil seine Rezension mir im Folgenden dazu dienen wird, meine eigenen Gedanken zu Nacht im Feuer zu präzisieren und zusammenzufassen, sondern auch, weil Lüscher ein sehr guter Freund von Hans Ulrich Reck war. Reck sprach mir gegenüber davon, dass, nachdem Lüscher 1983 sehr früh verstarb, er seinen Freund „niemals auch nur für längere Zeit vergessen habe“ (BUTZ/RECK 2014: o.P.), so dass ich es einen schönen Gedanken finde, Lüscher auch in dieser Festschrift zu Wort kommen zu lassen. Über Nacht im Feuer schreibt er:
Ein Buch, das sich liest, wie eine Rockplatte sich anhört: man versteht Wörterfetzen und dann wieder ganze Strophen und dann überhaupt nichts, und es kommt nicht drauf an, weil man genug versteht und weil etwas herüberkommt, eine Stimmung, könnte man sagen, eine Erregung, eine Unordnung, in der man tanzen kann.
(Rudolf M. Lüscher zit. n. Hans Ulrick Reck 2009: 77-78)
Lüscher scheint hier zu implizieren, dass Recks Versuch, das Chaos im Kopf von Jim Morrison zu visualisieren, gelungen ist. Auch wenn er das in diesem Zitat nicht direkt in Bezug auf Morrison ausformuliert, hält er doch fest, dass es eine „Erregung, eine Unordnung“ oder eben „eine Stimmung“ ist, die hier vermittelt wird, oder, wie er es viel passender ausdrückt, die „herüberkommt“. Er beschreibt damit Wahrnehmungen, die es ermöglichen sich mit dem im Buch existierenden Chaos auseinanderzusetzen, ohne dabei in die Falle zu tappen, es sofort durch die Brille des Analytikers in Kategorien einzuteilen, es zu entzerren und am Ende in einer Ordnung greifbar machen zu wollen. Dadurch begegnet das Buch seinem Analysegegenstand sozusagen auf Augenhöhe, denn es ermöglicht seinen Rezipientinnen und Rezipienten die unmittelbare Konfrontation mit einer „Stimmung“, die es nicht deskriptiv ausbreitet, sondern nahezu performativ evoziert. Das performative Element ist direkt an die Menschen gebunden, die das Buch in die Hand nehmen, denn es liegt an ihrem Zugang, ihren Assoziationen, ihrem Umgang mit dem Abgebildeten, was daraus im Moment der Betrachtung und darüber hinaus entsteht. Nacht im Feuer gaukelt nicht vor, einen tatsächlichen, einen womöglich authentischen Blick in die Gedankenwelt Jim Morrisons zu präsentieren, wie es zahlreiche Biografien zu tun pflegen, sondern lädt seine Leserschaft dazu ein, sich in Assoziationen zu verlieren, durchaus auch „überhaupt nichts“ zu verstehen und somit am Ende einer collagierten Kontextualisierung zu begegnen, die man nicht im herkömmlichen Sinne lesen, aber „in der man tanzen kann“, tanzen, wie es zu der Musik von Jim Morrison und The Doors möglich ist.
Damit wird das Buch dem Werk und entsprechend auch den Gedanken Jim Morrisons auf eine ganz andere Art und Weise gerecht als es eine rein diskursive Analyse könnte. Es greift Charakteristika der Rockmusik und des Mediums der Rockplatte auf, wie Lüscher so treffend festhält, und spürt damit den Genreeigenheiten nach, die es Jim Morrison ermöglicht haben, weltweit junge Menschen zu erreichen. Darüber hinaus zeigt Nacht im Feuer jedoch auf, dass die Gedanken, die Ursachen und die Einflüsse, die dabei zum Tragen kommen, weit über die Rockmusik hinausreichen und sich nicht nur in den kulturindustriell verwerteten Spektakeln vermeintlicher Jugend-, Sub- oder Protestkultur erschöpfen. Reck zeigt mit seinem Buch, dass er in Morrison weit mehr sieht als einen Rockstar. Die Form, die er für Nacht im Feuer wählt, entspricht dabei einer Art dialogischer Kritik, wie sie sich durch den einflussreichen amerikanischen Kulturwissenschaftler George Lipsitz und dessen Buch Time Passages – Collective Memory and American Popular Culture (1990) beschreiben ließe:
Dialogic criticism eschews formalism by finding meaning not in forms themselves, but in how forms are put into play at any given moment to re-articulate or dis-articulate dominant ideology. It avoids essentialism by evaluating cultural practice as an ongoing dialogue responsive to the demands of both past and present, rather than as a fixed inventory of practices to be approved or disapproved.
(George Lipsitz 1990: 100)
Reck bildet ein solches dialogisches Moment nicht nur ab; er ermöglicht es, in diesen Dialog einzutreten, beziehungsweise ihm zuzuhören – zuzuhören, wie einer Rockplatte: Nacht im Feuer präsentiert keine essentiellen Wahrheiten, sondern bringt ein Spiel der Formen zur Aufführung, das Vergangenheit und Gegenwart mithilfe verschiedenster Quellen und Materialien verbindet ohne diese einer festgelegten Deutung zu unterwerfen.
Verschafft man sich einen Überblick über das beeindruckende Werk, bestehend aus unzähligen Büchern, Monographien, Anthologien, Aufsätzen und Essays, das Hans Ulrich Reck nach Nacht im Feuer vorgelegt hat, dann wird klar, dass viele der Thematiken, die explizit und implizit in seinem Debüt eine Rolle spielen, ihn auch weiterhin und während seiner gesamten Karriere als Philosoph und Kunsthistoriker beschäftigt haben. Auch in seinen umfangreichen Arbeiten zu Forschungsfeldern wie beispielsweise ‚Traum’ oder ‚Kreativität’, zur Kunstgeschichte und zu Künstlerpersönlichkeiten wie Pier Paolo Pasolini tauchen immer wieder die Phänomene, Kunstwerke, sowie Teile der Texte, Personen und Diskurse auf, die den Dialog in Nacht im Feuer zu einem anhaltenden machen. Insofern lese ich dieses so interessante wie im besten Sinne merkwürdige Buch auch als einen inspirierenden und motivierenden Hinweis darauf, dass sich eine akademische Laufbahn nicht an kulturellen und wissenschaftlichen Moden entlang entwickeln muss, sondern sich und den eigenen Überzeugungen im Kern treu bleiben kann; auch wenn dabei natürlich immer wieder verschiedene Methoden zum Einsatz kommen. Nacht im Feuer ist in dieser Hinsicht wirklich besonders. Ganz bewusst entzieht es sich einer akademisch-wissenschaftlichen Arbeitsweise, büßt aber aufgrund seines dialogischen Charakters auch mehr als 35 Jahre nach seinem Entstehen Nichts an beobachtender Schärfe und Aktualität ein. Exemplarisch dafür darf abschließend ein Zitat von Jim Morrison stehen, das die Rezipientinnen und Rezipienten von Nacht im Feuer auch heutzutage und unter den ständigen medialen Eindrücken eines US Präsidenten Donald Trump zumindest in Ansätzen optimistisch und im besten Fall aktivistisch zurücklassen dürfte. Mit ihm schließe ich das Buchfür heute auf Seite 226 und hoffe Morrison hat recht, wenn er sagt: „Wir sind nicht da, um vier weitere Jahre Scheisse durchzustehen“ (zit. n. RECK 1981: 226).
Literaturnachweise
BUTZ, KONSTANTIN/RECK, HANS ULRICH: Zum Start von Pop Sub Hoch Gegen: »Nacht im Feuer« – Hans Ulrich Reck und Konstantin Butz im Gespräch. Pop Sub Hoch Gegen. 2014.
LIPSITZ, GEORGE: Time Passages – Collective Memory and American Popular Culture. Minneapolis, MN [University of Minnesota Press] 1990.
RECK, HANS ULRICH: Nacht im Feuer. Zur Alchimie des Todes in der Rockmusik. Adliswil [Bücherkarawane] 1981.
Reck, Hans Ulrich: „Pleased To Meet You“. In: Sympathy for the Devil. Hrsg. von Albert Kümmel-Schnur. München [Wilhelm Fink Verlag] 2009, S. 61-78.